Stimmtraining für Erzieherinnen
“Seminarprotokoll” für die Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung, Hamburg 2006
Nach einer Übersicht vom sozialen bis zum physiologischen Rahmen lernen die TN Bewegungs- und Wahrnehmungsspiele kennen, die wie nebenbei die stimmliche Leistungsfähigkeit verbessern.
Das Üben gliedert sich in 3 Teile: 1. Standortbestimmung 2. Veränderung der Situation 3. Beschreibung der Standortveränderung
Der überindividuelle Rahmen Die Stimme ist im Berufsbild unterbelichtet Während tägliche Beschäftigung und ständiges Lernen in wenigen Stimmberufen Voraussetzung zur Berufsausübung ist und gefördert wird (Schauspieler/innen und Sänger/innen machen nur 0,3 Prozent aller Sprechberufe aus!), gilt für das Gros der Sprecher/innen (97,7 Prozent) geradezu das Gegenteil: Die Stimme wird nur im Ausnahmefall (und meistens erst im Problemfall) Gegenstand einer professionellen Betrachtung und Bearbeitung. Und Erzieherinnen arbeiten in einem Stimmberuf.
Der individuelle Rahmen Was tun? Um den hohen Anforderungen des Alltags in der Arbeit mit Kindern auf Augenhöhe begegnen zu können bedarf es der Schulung. Eine kontinuierliche Eigenbeschäftigung mit der Stimme, die durch Fort- und Weiterbildung unterstützt wird, ist dafür erforderlich. Da im Berufsbild Erzieher/in die Stimme zwar irgendwo am Rande vorkommt, ihr aber außer der bloßen Erwähnung keine weitere Beachtung geschenkt wird, sind Erzieher/innen auf ihre eigene Initiative angewiesen. Willkommen also zu diesem Seminar!
Ich und meine Stimme Stimme und Wahrnehmung Sie sind nicht mit einer bestimmten Stimme geboren. Die Stimme hängt aber auch nicht an Ihnen dran wie eine Ledertasche. Sie können sie nicht einfach mal von der Schulter nehmen und auf dem Labortisch sezieren. Was ist dann Ihre Stimme? Etwas, das Sie tun. Fast alles von dem, was Sie tun, um, wenn ich das mal so sagen darf, Stimme zu tun, ist Ihnen nicht bewusst und nicht bewusst zugänglich. Das, was ihnen bewusst zugänglich ist, ist für eine dauerhafte Neuorientierung des Stimme-Tuns relativ unwesentlich. Und doch bleibt Ihnen – und mir auch nicht – nichts, als mit dem zu beginnen, was Ihnen im Moment zugänglich ist. Klingt frustrierend? Nein – klingt nach einem wirklichen Abenteuer. Zu Ihren Füßen liegt das Abenteuerland! Eintritt frei! Meine Eingangsfrage an jede einzelne der Teilnehmerinnen nach persönlicher Motivation und Ziel, lieber ein Seminar zum Thema Stimme besuchen als draußen einen Spaziergang an frischer Luft, wurde zunächst gewohnt allgemein beantwortet im Sinne von „Neugier“, „mal was ausprobieren“ oder scheinbar konkret „Tipps für den Alltag“. Diese Allgemeinheit der Antworten ist für diese Art Situation zwar üblich; die Antworten helfen aber dennoch weder mir noch den Teilnehmerinnen weiter. (Zu der Frage, warum „Tipps für den Alltag“ nur eine scheinbar konkrete Antwort ist, später mehr.) Daher begann ich, ein wenig nachzubohren. Eine Teilnehmerin wollte zum Beispiel wissen, ob sie überhaupt Arbeit an der Stimme benötige; sie sei ein oder zweimal im Jahr stimmlich ein wenig müde. Nun, ein oder zweimal im Jahr ein wenig müde zu sein, auch stimmlich, das ist wirklich kein Grund, sein Leben zu verändern oder auch nur ein Seminar zu besuchen. Im Gegenteil, es erscheint mir ein beneidenswerter Lebenszustand! Ich fragte nach der Dauer der Müdigkeit und was „ein wenig“ bedeute. Es stellte sich heraus, dass die Dauer bei 10 bis 14 Tagen lag und „ein wenig“ so viel war wie kompletter Stimmausfall. Das gab natürlich ein etwas anderes Bild. Eine Teilnehmerin berichtete davon, dass sie zu ihrer Schulzeit allmorgendlich Stimmübungen gemacht hätte und es wurde erwähnt, dass in der ehemaligen DDR Stimmunterricht für Erzieher/ innen zur Ausbildung gehörte wie zu der von Schauspielern. Dieser Punkt ist wesentlich, weil er das Berufsbild Erzieher/in betrifft.
Aus beiden Beispielen leitet sich ab, dass hier und heute
- die Stimme eigentlich erst im Problemfall Thema, und sie
- nur als pathologisches Wesen („funktioniert nicht richtig“) interessant ist.
Zudem ist sie dann Sache des Einzelnen. Damit fällt sie im Grunde komplett aus der systematischen Betrachtung, was Ausbildung, Beschaffenheit der Räume sowie Fortbildung angeht, heraus. Sie wird jetzt quasi Privatsache der Einzelnen. Daraus resultiert: Die einzelne muss selbst für ihre stimmliche Ausbildung sorgen – und zahlen. Und tut dies (falls überhaupt) meist erst, wenn es zu spät ist – wenn sie bereits stimmlich leidet.Sich auf den Weg zu einem freieren Stimmgebrauch zu machen ist daher eine Pionierarbeit.
Dasselbe trifft auch auf die psychologische Seite der Stimme zu. Der praktische Teil begann mit der Aufforderung an alle, sich summend oder singend einen bequemen Ton zu suchen. Die Aufgabe scheint einfach. Schwierig daran ist zunächst aber schon, überhaupt einen Ton zu summen oder zu singen. Und das, obgleich dieselben Personen doch zuvor recht ordentlich in der Lage waren, über sich und ihre Stimme zu berichten. Solche Berichte sind nicht selten recht persönlicher Natur oder werden es mit Hilfe einiger Nachfragen. Egal aber, ob persönlich oder weniger persönlich – im Berichten machen wir andauernd Geräusche („Sprechen“) – und denken uns nichts dabei. Im Summen oder Singen aber fehlt plötzlich die verbale Fassade – man hört „nur“ die Stimme. Und das ist eine seltsame Erfahrung. Sie mündet meist, wie auch hier, in roten Gesichtern und Kichern. Daran ist abzulesen, wie fremd uns die eigene Stimme in ihrem rein klanglichen Gehalt ist. Auf den Klang zu hören haben wir – ein kulturelles, kein individuelles Phänomen – schlicht nicht gelernt. Was erklärt, warum die Alltagstipps für den Stimmgebrauch so einfach nicht zu haben sind: Die Stimme ist uns ja alles andere als alltäglich. In der Beschäftigung mit ihr betreten wir Neuland, in dem wir uns wenig bis gar nicht zu orientieren wissen. Wer aber im Dunkeln tappt, dem nutzt der Tipp „auf dem Regal hinter der Keksdose“ nichts – weil er weder Regal noch Keksdose sieht. Stimmentwicklung zielt also zuallererst und prozessbegleitend auf die Wahrnehmung. Und während es im Beispiel des Tappens das Sehen war, sind es in Bezug auf die Stimme das Hören und das Fühlen, die entwickelt werden müssen.
Für einen männlichen Teilnehmer war die Suche nach einem bequemen Ton trotz der Verlegenheit, die ihn dabei begleitete, eine sehr angenehme Erfahrung. Nach dieser Exkursion fühlte er sich stimmlich besser und ruhiger, was sich in seiner Sprechstimme auch für die anderen Teilnehmer/innen wahrnehmbar zeigte. Ich fragte ihn, ob er sich an den gesungenen Ton in etwa erinnern könne. Er bejahte. Ich fragte ihn, ob er den Ton noch einmal singen könne. Er tat es. Und es war wiederum angenehm. Auf meinen Vorschlag, diesen Ton im Alltag, wenn er nicht gefordert sei – also im Auto zum Beispiel, in einer Arbeitspause, zu suchen – reagierte er lachend und kopfschüttelnd. Nein, das könne er sich nicht gut vorstellen – was würden denn die Leute an der Ampel denken, sähen sie ihn im Auto summen! Das Beispiel zeigt, wie sehr jedes kleinste Fitzelchen der Stimme mit dem Selbstbild und dem, wie man sein darf oder zu sein hat, zu tun hat. Eine Stimmübung ist daher selten – und selbst im Erfolgsfall nicht „einfach“.
Standortbestimmung – Demonstration mit einer Teilnehmerin Die Teilnehmerin berichtete, sie wolle allgemein etwas für ihre Stimme tun. Ich gesellte ihr eine zweite Freiwillige zur Seite. Aufgabe: Die Teilnehmerin sollte ihre Partnerin in Fantasiesprache in verschiedenen Abständen die Anweisung geben, etwas Bestimmtes nicht mehr zu tun. Zwei Erklärungen zur Übungssituation vorweg:
1. „Fantasiesprache“ heißt: Eine Sprache ohne verständliche Worte. Der Sinn ist hier, es den Zuhörern/ innen zu erleichtern, vom verbalen Gehalt zu abstrahieren und klangliche Parameter überhaupt zu bemerken. 2. Der jeweils größere Abstand wirkt ähnlich wie Sprechen in einer Umgebung mit hohem Störschall. Die hierbei abgerufenen Stimm-Muster sind aber zugleich oft auch dieselben, die jemand auch in alltäglichen Situationen, die nicht als anstrengend empfunden werden, benutzt. Sie sind sozusagen die eigene Stimm-Gebrauchs-Gewohnheit unter der Lupe betrachtet. Die Übungssituation spitzt also (in vielen Fällen) nur das zu, was jemand die ganze Zeit über tut. Diese (suboptimalen) Gewohnheitsmuster wirken schädigend, weil sie andauernd vorkommen – und (noch) nicht als schädigend empfunden werden.
Bei immer größerem Abstand wird die Stimme in puncto Durchsetzungsfähigkeit/Lautstärke gefordert. Schließlich forderte ich die Teilnehmerin auf, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, ihre Partnerin stehe auf der anderen Seite eines Fußballfeldes. Anschließend wurden die Teilnehmenden und danach das Plenum aufgefordert, ihre Beobachtungen zu schildern.
- Wie ging die Teilnehmerin mit der erhöhten Leistungsanforderung um?
- Wie klang die Stimme dabei?
- Welche Veränderungen in Körperspannung, Haltung und Bewegung waren dabei zu bemerken?
Aus Eigen- und Fremdwahrnehmung ergab sich ein gemischtes Bild mit einigen signifi kanten Überlagerungen: Bei vergrößertem Abstand wurde die Stimme als höher und gepresster wahrgenommen.Die Satzlängen kürzer. Während letzteres der Sache dient (wenn’s wirklich brennt, verwendetman keine Schachtelsätze sondern einfache Befehlsformen wie „Weg da!“ „Komm rüber“ oder: „Achtung!“) ist ersteres aus stimmphysiologischer Sicht möglicherweise kein Zeichen einer optimalen Strategie im Umgang mit der Leistungsanforderung. Im Gegenteil – sie verhindert die Entfaltung des stimmlichen Potentials. Zu erläutern, warum die Stimmphysiologen das meinen, ist hier nicht der Platz.
Veränderung der Situation Der zweite Teil ist die eigentliche Intervention. Ich bat die Teilnehmerin, in eine Haushaltsröhre zu singen. Während sie dies in der allgemeinen Heiterkeit tat, verschloss ich mit meiner Hand in unregelmäßigen Abständen das Rohr auf der freien Seite. In diesen Momenten kann die Luft nicht weiter aus der Röhre strömen. Meine Hand stellt ein Hindernis dar. Die ganze Prozedur ist sehr lustig. Auf funktionaler Ebene geht es um die Flexibilität im Umgang mit den beiden Luftausgängen „Nase“ und „Mund“. Schaltstelle hierfür ist der weiche Gaumen (Gaumensegel). Bei ineffektivem Muster wird dies tendenziell zu stark angehoben (Verschluss des Nasendurchgangs). Dies ist im alltäglichen Stimmgebrauch nur fürs geübte Ohr zu hören. In der Extremsituation „Sportplatz“ merken es sowohl die Zuhörer als auch die TN selbst. Das Spiel mit dem Hindernis „Hand“ führt zu einer erhöhten Flexibilität des weichen Gaumens, was mit einer erhöhten Flexibilität der Koordination Atmung – Kehlkopf einhergeht.
Nach dieser Intervention bat ich die Teilnehmerin, erneut „quer über den Rasenplatz zu rufen“ – was ihr laut ihrem Bericht diesmal wesentlich leichter fi el. Das Rund berichtete, die Stimme sei nicht so hoch gerutscht, habe angenehmer geklungen und die Teilnehmerin habe entspannter im Gesicht ausgesehen. Die erreichte Lautstärke wurde unterschiedlich empfunden. Die Stimme sei aber in jedem Fall plötzlich klarer und besser verständlich gewesen. Hier ist von funktionaler Seite aus anzumerken, dass Lautstärke tatsächlich auch nicht das einzige Kriterium für Tragfähigkeit und damit für Leistungsfähigkeit ist.
Beschreibung der Standortveränderung Die Teilnehmerin konnte sich vorstellen und war neugierig, mit der Küchenrolle weiter zu arbeiten, indem sie meinen Part des Verschließens der vorderen Öffnung selbst vornähme. Sie bekam als Aufgabe, auch bei hohen und tiefen Tönen zu versuchen, Luft durch die Nase fl iesen lassen zu können (und so das Hindernis „Hand“ zu mindern).
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