Feldenkrais und Stimme

  1. Vorweg  
  2. Das Selbstbild
  3. Selbstbild und Übungsstruktur im Stimmtraining
  4. Perspektivverschiebung
  5. Das Schiefstehbeispiel
  6. Probleme von außenorientiertem Lernen
  7. Ganzheitlichkeit
  8. Gewohnheit und Bewußtheit (zum Begriff der Gewohnheit siehe auch Artikel “Hörbild und Gewohnheit”)

Vorweg  

Absicht dieses Artikels ist es, darzustellen, wie Ideen und Praxis von Moshe Feldenkrais in bestimmte Formen der Stimmarbeit (Sprechtraining und Gesangsunterricht) eingeflossen sind. In den Artikeln, Übungen, FAQs und Arbeitsmaterialien auf dieser Stimmplattform sowie die in den Übungen und Hintergründen im Buch Die souveräne Stimme (von Olaf Nollmeyer, GABAL Verlag 2005) spiegelt sich diese Stimmarbeit wider. Lehrer und Trainer dieser Richtung finden Sie links unter dem Menüpunkt Trainer.

Der Einfluss ist nicht bloß additiv („Erst mal ein bisschen Körperarbeit vorweg, bevor wir zu den Stimmübungen kommen ...“) sondern strukturell. Vielerorts dagegen (in der Schauspiel- oder Gesangsausbildung z.B.) wird  Feldenkrais oft als „Entspannungstechnik“ missverstanden – und als solche auch (fälschlicherweise) kritisch beäugt: „Fürs Spielen/Singen braucht es doch eine gewisse Grundspannung!“

Wird Feldenkrais (oder die Alexander Technik) dann doch als Teil der Ausbildung akzeptiert, so stehen diese meist etwas abseits, sind (bloße) Ergänzungsfächer: „Da lernst du vielleicht etwas über dich selbst – hier aber lernst du singen!“

 Die Stimmarbeit, um die es hier geht, reduziert Feldenkrais nicht auf eine interessante Entspannungstechnik, sondern hat seine zentralen Überlegungen, Beobachtungen und Vorgehensweisen in sich aufgenommen. Ebenso wenig wie Feldenkrais eine typische Form der „Körpertherapie“, „Entspannungstherapie“, â€žBewegungstherapie“ oder â€žKrankengymnastik“, ist diese Stimmarbeit typisch für das, was auf dem Markt zum Thema Stimme angeboten wird. Die Unterschiede werden Ihnen sowohl beim Üben als auch bei der Besprechung der Grundlagen deutlich.

 Das Gros der Stimmarbeit beginnt oft damit, Kategorien für einen Sprecher oder Sänger zu (er-)finden. Der Art der Typologisierung sind dabei keine Grenzen gesetzt. Ein Mensch wird so wahlweise zu einem Hochatmer, Tiefatmer, Einatmer, Ausatmer, seine Stimmfunktion ist hypoton und hyperton, seine Stimme sitzt vorn oder hinten usw. Entsprechend der eingangs vorgenommenen Typologisierung beginnen dann Unterricht oder Therapie, die z.B. einen Ausgleich zwischen den beiden Polen (Typologisierungen kommen gern als einfache Polarität daher: so oder so.) herstellen wollen. Der Schüler, Coachee oder Klient wird also zunächst an die Welt des Trainers bzw. Lehrers/Coaches/Therapeuten angepasst, und dann innerhalb dieser Welt therapiert/unterrichtet, gecoacht usw.

 Es geht auch anders.

 Feldenkrais und die hier vorgestellte Stimmarbeit bieten weniger eine neue Welt von neuen Schubladen, als vielmehr Werkzeuge zur Untersuchung dessen, was Sie tun. Die wichtigsten Fragen dabei sind: Was möchten Sie erreichen? Welche Mittel setzen Sie dazu ein? Im Mittelpunkt stehenSie – und nicht die Methode. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der menschlichen Lernfähigkeit. In einem guten Stimmtraining erfahren Sie nicht „bloß“ etwas über die Stimme – er sollte Ihnen interessante neue Lernwege eröffnen.

 (Die Feldenkraismethode selbst wird im Folgenden nicht ausführlich besprochen – das ist an vielen anderen Stellen bereits geschehen z.B. auf der Internetseite www.feldenkrais.de/FK-Methode.htm. Die Zitate stammen von dort (und den Autorinnen Barbara Pieper/Sylvia Weise) und dienen jeweils als Brückenschlag zur Stimmarbeit.)

 Das Selbstbild

    “Es gibt viele Theorien, Methoden und Techniken, über Bewegung zu lernen. In Umkehrung zu weitverbreiteten Vorstellungen ist Lernen für Moshé Feldenkrais jedoch einfach, effizient und vor allem nachhaltig, wenn es von innen nach außen erfolgt. Er knüpft deshalb an das innere Erleben der Person an. Denn dies ist der Maßstab für sein Handeln:

     "Wir handeln dem Bilde nach, das wir uns von uns machen" (Feldenkrais 1978:19).

     "Ein jeder bewegt sich, empfindet, denkt, spricht auf die ganz ihm eigene Weise, dem Bild entsprechend, das er sich im Laufe seines Lebens von sich gebildet hat. Um die Art und Weise seines Tuns zu ändern, muß er das Bild von sich ändern, das er in sich trägt" (Feldenkrais 1978:31)“

 Selbstbild und Übungsstruktur im Stimmtraining

Die Übungen des Buches Die souveräne Stimme sowie die Übungen, die Sie auf dieser Stimmplattform finden, wenden diese Ideen Feldenkrais’ auf die Stimmarbeit an. Dazu nur ein Beispiel, die Struktur der Übungen betreffend: Zentrales Element einer Übung ist der Vorher – Nachher – Vergleich, bzw. die dreiteilige Übungsstruktur:

 1.     Den Ausgangszustand bestimmen.

2.     Die Übung.

3.     Die Veränderungen konstatieren.

Im ersten Teil sprechen oder singen Sie ein paar Sätze bzw. Töne um einen Eindruck, oder ein Bild von Ihrem momentanen Stimmklang und Stimmgefühl zu bekommen.

Erst jetzt folgt der eigentliche Übungsimpuls. Dies kann eine bestimmte Bewegungssequenz  verbunden mit einem gesungenen Ton sein, die Erforschung bestimmter Räume oder Einstellungsmöglichkeiten, wie etwa dem Kiefer, der Zunge, den Lippen etc. Möglich sind aber auch Aufgaben hinsichtlich des Hörens oder eine veränderte Wahrnehmung des Körpers bzw. des Klangs. „Übungen“ in diesem Kontext sollen eine neue und interessante – eine unerhörte! - Erfahrung vermitteln, sie enthalten unerwartete Fragen und bewegen sich zugleich im bereich des Angenehmen und Leichten. Üben ist dann nicht das Abhaken von bestimmten Bewegungs- oder Lautfolgen, sondern das Schaffen von Lernsituationen.

Im dritten Teil geht es darum festzustellen, was die kleine Expedition des Mittelteils in Ihrer Selbstwahrnehmung verändert hat – und wie sich diese Veränderung auf Ihre Stimme auswirkt. Daher der vergleich mit dem unter Punkt 1 ermittelten Ausgangszustand.   

 â€žFeldenkrais-Lehrende verstehen ihre Arbeit als Anleitung zu "organischem Lernen". Diese Art des Lernens orientiert sich am sinnes- und experimentierfrohen Lernen und Verstehen von Kleinkindern. Sie steht Menschen jedoch lebenslang zur Verfügung. Inspiriert wird dieses Lernen durch Neugier, Lust, Erstaunen, Freude an Überraschungen und dem Bedürfnis sich mitzuteilen. Entsprechend dieser "kindlichen Logik" wird absichtslos mit scheinbar zufälligen Bewegungen experimentiert. Neue Sinnesempfindungen tauchen auf, Unterschiede werden erkannt und bilden im Nervensystem neue sensomotorische Gestalten (Reese 1991:7) oder lassen längst nicht mehr genutzte "Bahnen" wieder auftauchen. Die Reorganisation von Verhalten erfolgt hier auf dem gleichen Weg, auf dem sie entstanden ist: dem der vielfältigen Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrung (Sensomotorik).“

 Perspektivverschiebung

Interessant an der dreiteiligen Übungsstruktur ist auch die Perspektivverschiebung: Sie selbst bestimmen Ihren Ausgangszustand. Das ist entscheidend, damit eine Übung Ihnen zur nachhaltigen Veränderung verhilft. Sie bindet Sie (den Schüler, Klienten, Coachee) aktiv in die Verantwortung für den Lernprozess mit ein und gewährleistet von Beginn an, daß der Unterricht/ das Coaching/ die Therapie nicht zum Selbstzweck wird, sondern Ihnen beim Erreichen Ihrer Ziele in Ihrer Lebenssituation hilft.

Eine effektive Stimmarbeit ist daher nicht abgekoppelt von Ihrem Leben.

Oft genug wird die Bestimmung des Ausgangszustands dem Experten überlassen: dem Lehrer, dem Trainer, dem Arzt usw. Dessen Beschreibungen genießen von Vorneherein den Status der Richtigkeit, besitzen Autorität. Die eigenen Beschreibungen stehen dahinter zurück. Sie wollen z.B. vom Experten wissen: „Ist es so richtig?“ „Ist das schön?“ Usw. So richten Sie sich von Vornherein daraufhin aus, dem Bild des Anderen gerecht zu werden. Ihr eigenes Erleben werten Sie im Zweifelsfall als falsch – denn Sie sind ja nicht der Experte.

Das Schiefstehbeispiel

Ein Orthopäde/ Körpertherapeut/ Krankengymnast sagt Ihnen:

„Sie stehen schief.“

Als erstes versuchen Sie nun sich „gerade“ hinzustellen – was die Sache noch weiter verkompliziert. Denn nun führen Sie zusätzlich zum Schiefstehen - die Aktivitäten fürs Schiefstehen sind längst automatisiert, darüber brauchen Sie nicht mehr nachdenken - noch eine weitere Aktion aus: das „Geraderücken“. Der Aufwand ist nun größer als vorher. Zudem bedarf diese neue, „gerade“ Haltung der bewussten Kontrolle und der bewussten Aktivität. Sobald diese verschwinden (sobald Sie mit etwas Anderem befasst sind, sei’s angenehm oder unangenehm) geben Sie diese Zusatzanstrengung auf und stehen wieder wie zuvor. Auf diesem Weg also verändern Sie nicht das Selbstbild - in dem wird das „Schiefstehen“ ja als „normales Stehen“, vermutlich sogar als „Geradestehen“ empfunden, selbst, wenn Sie im Spiegel sehen könnten, daß die eine Schulter höher ist als die andere, das eine Bein weiter vorne steht usw. Dieses Spiegelbild leitet aber (offensichtlich) nicht Ihre Bewegung – wenn Sie es diesem Bild recht machen, erreichen Sie noch nicht die Instanzen in ihnen, die Sie dazu bringen, so zu stehen – und das Drama „Ich sollte so sein!“ beginnt.

 Probleme von außenorientiertem Lernen

Ein solches Lernen (das durchaus erfolgreich sein, bewundernswerte Ergebnisse hervorbringen kann) läuft am Selbstbild vorbei. Die Fehler, die im Versuch der Angleichung an das (Selbst-) Bild des Anderen entstehen, sind Momente, in denen das eigene Bild kurz in Erscheinung tritt – als Störfaktor. Die in diesem Lernweg erworbenen Fähigkeiten sind immer heikel:

  • Sie sind abhängig vom Urteil eines anderen (des Experten, dem Kritiker, der Autorität auf dem Gebiet etc).
  • Die eigenen Bedürfnisse und Eigenarten können jederzeit als Störfaktor aus dem Hintergrund hervortreten – und es bedarf also stets einer Kontrolle, um sie daran zu hindern; „Ich“ wird so zum ständigen Problem.
  • In Folge dessen finden die im Sinne des Ideals begradigten, übertünchten, kaschierten und maskierten Anteile des Selbst ungewöhnliche Wege des Ausdrucks – beispielsweise vermittelsHeiserkeit. Denn die ist auch ärztlich diagnostizierbar. Ein Opernsänger z.B. mit entsprechendem Attest darf dann (aber auch nur dann!) endlich einmal für ein paar Tage aus dem Normierungsbetrieb der Oper ausscheren.
  • Maßstab fürs Tun ist ein Ideal – aber selbst, wer das Ideal verwirklicht, weiß noch nicht, was sein Potential wäre.
  •  Ist der Lernweg erfolgreich, das heißt, imitieren Sie Ihren Lehrer perfekt – dann ist – im Zuge des Erfolgs - das Wichtigste an der Sache verloren gegangen: Sie selbst.
  •  â€žDer Begriff des Selbstbildes umfaßt die vier Dimensionen Sinnesempfinden, Fühlen, Denken und Bewegen. Der Zugang zu diesem Selbstbild erschließt sich über die absichtsvoll handelnde Person - deren Innensicht. Korrektur von außen, bloße Nachahmung oder rein mechanische Einwirkung auf Teilbereiche des Körpers erübrigen sich deshalb. Moshé Feldenkrais trägt sowohl in seiner Begrifflichkeit wie in seiner Praxis konsequent der Einheit von Körper, Geist und Seele Rechnung.“ (Hervorhebung von mir, O.N.)

 

Ganzheitlichkeit

Sie besitzen kein Stimmorgan.

 Diese Behauptung scheint etwas unüblich zu sein.

 â€žIch habe doch einen Kehlkopf und einen Mund und ...“.

 Stimmt. Aber all diese Teile sind weder ausschließlich noch in erster Linie mit dem Erzeugen von Lauten, Gesängen, Schiedsrichterbeschimpfungen oder wohlfeilen Vorträgen befasst. In erster Linie dienen sie überlebenswichtigen Vorgängen wie etwa dem Nahrungstransport (die Zunge zum Beispiel) oder sie schützen die Atmungsorgane (der Kehlkopf etwa). Von daher wird verständlich, daß Stimmarbeit immer tiefere Aspekte eines Menschen berührt als bloß technische Fragen nach „deutlicherer Artikulation“ oder Ähnlichem vermuten lassen.

 Stimmfunktionen bloß technisch aufzufassen erlaubt ein nur sehr schmalspuriges Lernen, deren Ergebnisse im Ernstfall als erstes über Bord kippen (siehe etwas weiter oben im Text:

Probleme von außenorientiertem Lernen, sowie ausführlicher im Buch Die souveräne Stimme).

 Die eine Richtung der Betrachtung führt also vom Sprechens eine Etage tiefer auf die Ebene des „Überlebens“. Diese macht erklärbar und nachfühlbar, warum Sprechen und Singen eine so große Hürde darstellen können (z.B. beim Vortrag), warum die Beschäftigung mit der Stimme aber auch so befreiend sein kann, warum es Einem, wenn es um die eigene Stimme geht, nie egal ist. Stimmarbeit rührt an hochsensible Bereiche, die Stimme ist selbst ein hochsensibles Instrument.

 Die andere Richtung führt vom Stimmklang und Körper zu den Gefühlswelten und zum Intellekt. Dass die Stimme auch eine Frage der Stimmung sei ist mittlerweile eine Binsenweisheit ebenso wie die Umkehrung des Satzes – dass sich über die Stimme auch die Stimmung verändern lässt.

Gewohnheit und Bewußtheit

Wie Sie sprechen oder singen ist zum größten Teil Ausdruck Ihrer gewohnheitsmäßigen Muster. Diese umfassen Haltungs-, Bewegungs- und Hörgewohnheiten. Wird jemand nach lautem Sprechen heiser, dann könnte es gut sein, daß es weniger das laute Sprechen selbst ist, das als solches Heiserkeit nach sich ziehen muss – die Heiserkeit ist möglicherweise Ausdruck der Überforderung des gewohnten Musters. Sie sind über ihre Grenzen gegangen. Die Grenzziehung aber ist nicht zwangsläufig. Sie können lernen, sich innerhalb Ihrer Grenzen freier zu bewegen und auf diesem Weg Ihre Grenzen zu verschieben. Feldenkrais nennt das „Sich das Mögliche angenehm, das Angenehme leicht und damit das Unmögliche möglich machen.“

Die Stimmarbeit sucht immer, im Rahmen des Angenehmen zu bleiben und spürt hier das Unerwartete und Spannende auf. Zweck ist, einschränkende Gewohnheiten zu erkennen und das Repertoire an Verhaltensmustern zu erweitern. Zum Verhalten gehören dabei die Wahrnehmungsfähigkeit im Hören und Fühlen dazu. Etwas grob formuliert: Wer genauer hört und fühlt, spricht und singt besser. Wie bei jeder Fähigkeit gehören zu dieser vor a allem die Verkoppelung bestimmter Wahrnehmungen. Ein genialer Pianist hat keine anderen Muskeln als Sie oder ich – der Unterschied liegt in einer viel weiter ausdifferenzierten Sensomotorik in Bezug aufs Klavierspielen. Diese ist Ergebnis, bzw. sich stets fortentwickelnder Teil des Lernprozesses. Lernen kann man dabei mit Bewusst-Werden gleichsetzen.

     â€žDie Fähigkeit zu lernen ist in uns angelegt. Als Menschen handeln wir nicht reflektorisch, sondern absichtsvoll über Versuch und Irrtum, bis wir eine unseren Intentionen befriedigende Lösung gefunden zu haben meinen. Vor allem aber: Wir wissen jeweils (oder könnten wissen), was wir tun. Bewußtheit gibt uns die Freiheit (und die Verantwortung), eine Wahl zu treffen, z.B. an einer Gewohnheit festzuhalten oder sie zu ändern. Feldenkrais vertraute auf diese Fähigkeit zur Selbstleitung. Er bestätigte mit seiner Arbeit sein Menschenbild: Der Mensch ist Zeit seines Lebens strukturell auf Lernen eingerichtet, motiviert und begierig, neue Erfahrungen machen zu können (vgl. dazu auch Affolter 1987).“

  (Fortsetzung folgt)